Bordärztin auf der Sea Eye im Interview
Frau Leist, wie verlief dieser Einsatz und was waren die besonderen Herausforderungen?
Angelika Leist: „Wir erhielten am 2. Februar in der Nacht die erste Meldung über ein Boot in Seenot. Da waren wir circa 40 km vor Tripolis. Das Boot war ungefähr sieben Stunden von uns entfernt, 35 Personen waren an Bord, mehrere Frauen, Kinder und Kleinkinder und einige Schwerverletzte. Wir haben die Menschen dann an Bord genommen – sie waren in einem so schlechten Zustand, dass die meisten nicht selbständig an Bord über die Strickleiter klettern konnten, sondern in einem Dreieckstuch hochgezogen werden mussten. Die Menschen waren total entkräftet, unterkühlt und dehydriert nach sechs Tagen ohne Trinkwasser und Essen. Zwei Menschen konnten leider nur noch tot geborgen werden. Darunter die Mutter eines 6-jährigen Jungen, der auch im Boot war und alles miterleben musste.“
Was konnten Sie in dieser hochdramatischen und psychisch extrem herausfordernden Situation für die Menschen tun? Was haben Sie speziell für den Jungen getan?
Angelika Leist: „Dieser 6-jährige Junge hat uns alle am meisten emotional beschäftigt. Er gab erstmal kein Wort von sich, wollte nicht essen, lag apathisch auf seiner Liege im Container. Alle weiblichen Crewmitglieder nahmen sich zunächst nonverbal liebevoll seiner an. Nach viel Mühen fasste er dann doch ein bisschen Vertrauen und gab ab und zu auch einsilbige Antworten, denn er verstand Französisch. Am Tag der Ausschiffung wurde ihm dann ein Videotelefonat mit seinem in Frankreich lebenden Vater vermittelt, da lächelte er sogar.“
Welche medizinischen Möglichkeiten stehen an Bord zur Verfügung?
Angelika Leist: „Die medizinische Ausstattung an Bord ist recht gut: Es können Medikamente oral verabreicht werden, und auch Infusionen und parenterale Medikamente stehen zur Verfügung, welche wir für die Geretteten nutzten. Am meisten brauchten sie aber Wärme, Wasser, Nahrung und Ruhe sowie Verbände für ihre vom Diesel und Meerwasser verätzte Haut an den Extremitäten und am Gesäß. Diese Wunden waren sehr schmerzhaft, wofür uns Schmerzmittel zur Verfügung standen.“
Noch während Sie und das Team mit der medizinischen Behandlung und Versorgung der Menschen mit Decken und Nahrungsmitteln beschäftigt waren, wurde ein zweites, total überfülltes Gummiboot gemeldet. Was passierte dann?
Angelika Leist: „Das Boot war fünf Stunden entfernt, und als wir es erreichten, war auch schon ein Schiff der libyschen Küstenwache vor Ort, die ebenfalls versuchten, das Boot zu erreichen. Mutmaßlich, um die Insassen nach Libyen zurückzubringen. Unser Kapitän manövrierte dann unser Mutterschiff zwischen die Küstenwache und unsere Rettungsboote, bis alle Menschen sicher an Bord gebracht waren. Sie waren nur wenige Stunden unterwegs gewesen und daher gesund, guter Dinge und sehr dankbar für die Rettung.“
Damit waren dann 106 Menschen an Bord zusätzlich zur Crew. An Schlaf ist in so einer Situation nicht zu denken, egal wie lange man schon wach ist, oder? Was haben Sie in der Zeit gemacht, bis die Menschen sicher von Bord gehen konnten?
Angelika Leist: „Während und nach den Rettungen hat erstmal kein Crewmitglied geschlafen. Die Geretteten mussten ja mit warmer Kleidung, Decken, Wärmflaschen, Essen und Trinken sowie Medizin versorgt werden. Später gab es dann einen Schichtplan, sodass jeder mal zwischendurch zwei Stunden ruhen konnte. Allerdings gab es auch medizinische Notfälle. In der ersten Nacht mussten wir einen Geretteten evakuieren. Er wurde im Hubschrauber nach Malta ausgeflogen. In der nächsten Nacht, ich hatte mich gerade ein bisschen hingelegt, lag plötzlich ein junger Mann bewusstlos vor seiner Liege. Unsere Ersthilfemaßnahmen konnten ihn nicht erwecken und wir fanden leider auch keine Ursache. Dieses Mal dauerte die Evakuierung durch die zuständigen Italiener sehr lange. Der junge Mann verstarb später im Krankenhaus in Messina.“
Wie endete dieser Einsatz?
Angelika Leist: „In Neapel wurden alle ausgeschifft und die meisten Menschen von der ersten Rettung ins Hospital gebracht. Wir, also die Crew, wurden drei Tage von der italienischen Polizei im Hafen festgehalten und verhört. Danach durften wir die Werft in Burriana in Spanien anlaufen und hatten noch ein paar ruhige Tage an Bord.“
Nun sind seit diesem Einsatz ein paar Wochen vergangen. Was ist davon vor allem geblieben? Werden Sie noch einmal auf einem Rettungsschiff als Bordärztin arbeiten?
Angelika Leist: „Die Erinnerung an diesen Einsatz ist sehr nachdrücklich. Im Vergleich dazu kommt mir v.a. mein erster Einsatz im Jahr 2022 fast wie eine Kreuzfahrt vor. Aber das Wissen, dass alle eine großartige Arbeit geleistet haben, dass die Crew durch diese dramatischen Ereignisse eng zusammengewachsen ist und wir immerhin über 100 Menschen gerettet haben, gibt doch ein sehr positives Gefühl. Und von den italienischen Ärzten bekamen wir ein großes Lob für unsere Leistung. Ich werde auf jeden Fall wieder einen Einsatz machen, solange es die europäischen Regierungen nicht schaffen, das Problem anders zu lösen.“
Sie sind eine sehr erfahrene Einsatzärztin. Worauf kommt es an, wenn man einen Einsatz als Bordarzt bzw. -ärztin machen möchte?
Angelika Leist: „Für den Einsatz auf einem Rettungsschiff muss man sowohl vom Körperlichen wie auch von der Psyche sehr stabil sein. Es gab schon heftigen Seegang und einige Crewmitglieder wurden sehr seekrank. Auch muss man stärker mit vorher unbekannten Herausforderungen rechnen.“
Ende Juni geht es für Sie das erste Mal nach Samar in den Einsatz. Die Philippinen kennen Sie ja bereits von anderen Hilfseinsätzen. Worauf freuen Sie sich, wenn Sie an diesen Einsatz denken?
Angelika Leist: „Ich freue mich besonders auf den abenteuerlichen Aspekt, den ein Einsatz bei der Rolling Clinic auf den Philippinen mit sich bringt, aber auch auf die Zusammenarbeit mit den philippinischen Kolleginnen und Kollegen.“