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Vergessene Dörfer in Westbengalen: Einsatz für das Recht auf Gesundheitsversorgung

Das indische Gesundheitssystem hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht, doch die indigene Bevölkerung in Westbengalen wurde vergessen. Mit dem neuen Projekt der German Doctors in Jhargram bekommt sie nun Zugang zu medizinischer Grundversorgung.

Ein Gastbeitrag von Katharina Nickoleit, Journalistin und Autorin

©Christian Nusch

Prumananda Katal sitzt vor seiner Hütte auf einer Pritsche, sein steifes Bein von sich gestreckt. Als Dr. Hartmut Göpfert und Dr. Winand Lange die nässende Wunde begutachten wollen, müssen sie erst einmal ein paar Fliegen vertreiben. Viel können die Ärzte hier nicht machen. Prumananda Katal brach sich schon vor dreieinhalb Jahren bei einem Sturz aus mehreren Metern Höhe das Bein, der offene Bruch wurde nicht richtig behandelt.

„Das, was man hier sieht, ist nur die Spitze des Eisbergs. Vermutlich ist der ganze Unterschenkelknochen entzündet“, meint Dr. Göpfert, von Haus aus Orthopäde. „Das wäre schon in Deutschland eine schwierige Geschichte, die Sanierung dauert zwei Jahre, mit Fixateur und langen Krankenhausaufenthalten. Hier ist das unmöglich.“ „Warum wird denn die Wunde nicht wenigstens verbunden, sodass keine Fliegen drangehen?“, fragt Dr. Lange. Die Verbände würden Schmerzen verursachen, ist lautet die Antwort. Der Palliativmediziner schüttelt einigermaßen fassungslos den Kopf. „Aber dafür sind doch Schmerzmittel erfunden worden! Jedem Menschen steht eine angemessene Palliativbehandlung zu. Warum kommt er nicht zu uns in die Klinik?“

Die beiden Ärzte sind quasi Pioniere in dem neuesten Projekt der German Doctors in Indien, das im Spätherbst 2023 gestartet ist. Es liegt in Jhargram, gut vier Autostunden westlich von Kalkutta in einer Region mit überwiegend indigener Bevölkerung. Während sonst in Indien nicht nur in den Metropolen, sondern auch auf dem Land Fortschritt und Entwicklung zu sehen sind, sind die Dörfer hier wie aus der Zeit gefallen. Es gibt weder Busse noch Strom und statt der üblichen Ziegelhäuschen einfachste winzige Lehmhütten. „Wir haben es hier mit einer ganzen Gemengelage an Problemen zu tun“, meint Anirban Chakubati von KJKS, der lokalen Partnerorganisation der German Doctors. „Die Adivasi sprechen eine eigene Sprache, die nicht in der Schule gelehrt wird. Deswegen sind sie sehr schlecht gebildet und wissen nicht, wie man sich gesund hält, und schon gar nicht, dass es ein Recht auf Gesundheitsversorgung gibt.“

Die Menschen fühlen sich schwach und kraftlos

Der Hausbesuch bei dem Patienten mit der eiternden Wunde findet nach dem Einsatz mit der mobilen Klinik statt. Aus den umliegenden Dörfern kamen den ganzen Vormittag über Patientinnen und Patienten in das Gemeindezentrum, in dem die German Doctors alle zwei Wochen ihre provisorische Praxis öffnen. Ein Fall ist Dr. Göpfert besonders gut in Erinnerung geblieben „Ich hatte heute eine 80-jährige Dame, die nach zwei Wochen wiedergekommen ist. Die hatte eine extreme Blutarmut, einen Wert von 3,5. Normal ist hier bei Frauen 10, bei uns 12. Das ist etwas, wo man sich wundert, dass so jemand überhaupt noch laufen kann. Wir haben sie letztes Mal mitgenommen ins Krankenhaus, dort hat sie zwei Blutinfusionen bekommen. Jetzt geht es ihr deutlich besser. Das war sehr eindrücklich.“ Die Ursache für diese extreme Anämie ist die schlechte Ernährung. Viele Patientinnen und Patienten haben einen sehr niedrigen Body-Mass-Index. „Heute hatte ich eine Dame mit 32 Kilo bei 1,50 Metern. Das ist so gerade noch tolerabel“, erinnert sich Dr. Lange. „Wenn die Nahrung nur aus dreimal täglich Reis besteht, fühlen sich die Menschen natürlich schwach und kraftlos. Es fehlt an Hülsenfrüchten, Fleisch oder Fisch.“

Kajla Janakalyan Samity, kurz KJKS, ist eine alteingesessene Organisation, die seit 80 Jahren in Westbengalen hilft. Bislang kümmerte sie sich vor allem um strukturelle Ungerechtigkeit und alles, was damit einhergeht: Bildung, Teilhabe, den Schutz von Kindern, die Stärkung von Frauen und von Minderheiten wie der indigenen Bevölkerung. Jhargram ist eine vernachlässigte, sehr arme Region. Die einzige Arbeit, die es hier gibt, ist das Sammeln der großen Salblätter.

Daraus lassen sich verrottbare Teller und Schüsseln herstellen. In Indien, dass dem allgegenwärtigen Plastikmüll den Kampf angesagt hat, werden sie überall nachgefragt. Doch diejenigen, die sie ernten, und dabei im Wald zwischen Schlangen und Elefanten oder beim Klettern in den Baumwipfeln ihr Leben riskieren, profitieren nicht davon. Ihr Verdienst ist so gering, dass sie in absoluter Armut leben.

Direkt mit Gesundheit hatte KJKS bislang nicht zu tun. Aber Gesundheit ist mit Armut eng verknüpft, „denn sie führt zu mangelhafter Ernährung, fehlender Hygiene und ungesunden Wohnverhältnissen“, fasst Anirban Chakubati die Lage zusammen. KJKS will nicht nur mobile Kliniken anbieten, sondern die Probleme grundsätzlich angehen.  „Dazu braucht es zuerst einmal ein Bewusstsein für die Ursachen von Erkrankungen. Deshalb planen wir Aufklärungsprogramme zu Themen wie Ernährung, persönliche Hygiene, Säuglings- und Kinderpflege.“ Diese Workshops sind noch in Planung, anderes läuft schon. In einigen Dorfschulen erhalten die Kinder Nüsse, Datteln, Früchte und Vollkornkekse, um sie mit Eisen, Vitaminen und Mineralien zu versorgen.

Krankheit und Schmerzen als Fluch Gottes

Community Health Workers, ehrenamtliche Gesundheitshelfer, beraten die Familien, damit sie Küchengärten anlegen, um sich selber besser versorgen zu können. Die Community Health Workers sind ein unverzichtbarer Bestandteil der Arbeit der German Doctors. Sie kommen selber aus den Dörfern, kennen ihre Nachbarn, wissen, wo die Probleme liegen und können die Menschen direkt beraten. Sie spielen auch eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, Kranke überhaupt in die mobilen Kliniken zu bringen. Sie gehen von Hütte zu Hütte, informieren die Patientinnen und Patienten über das Angebot, bieten Hilfe beim Transport an. Bei Prumananda waren sie schon sieben Mal, doch trotz seiner schweren Schmerzen kommt er einfach nicht. „Die Menschen in den Dörfern sind es nicht gewohnt, Zugang zu medizinischer Versorgung zu haben. Sie sehen Krankheit und Schmerzen als einen Fluch Gottes an, den man akzeptieren muss“, erklärt Anirban Chakubati. Das betrifft besonders die indigene Bevölkerung, die ganz unten in der indischen Hierarchie steht.

Eigentlich gibt es unterdessen durchaus eine staatliche Basisgesundheitsversorgung, und auch in Jhargram ist das nächste Krankenhaus selten weiter weg als 20, 30 Kilometer, das Hauptproblem ist die Erreichbarkeit. „Aber wenn sie die Versorgung oder den Transport nicht einfordern, werden sie vom Staat vergessen. Und um sie einfordern zu können, müssen sie erst einmal die Erfahrung machen, dass es Hilfe gibt. Deshalb ist der niedrigschwellige Ansatz der German Doctors so wichtig. Wenn sie das drei, vier Jahre erlebt haben, werden die Menschen ihre Stimme erheben, und dann werden wir die mobilen Kliniken der German Doctors nicht mehr brauchen.“