Liebe Sophia, was fällt Dir als erstes ein, wenn Du zurück an Deinen Aufenthalt in Jhargram denkst?
Sophia Ladner: „Wie dünn die meisten Menschen vor Ort sind, kommt mir als erstes in den Kopf. Darüber hinaus hat mich vor allem das Schicksal einer Frau mit multiresistenter Tuberkulose berührt, die kurz vor unserem Besuch ein Baby bekommen hat. Es grenzt an ein Wunder, dass sie in ihrem Zustand überhaupt ein Baby zur Welt bringen konnte. Das Baby lag in der dunklen Hütte, war sehr klein und ich fragte mich, wie das Baby überhaupt ernährt wird. So dünn und erkrankt wie die Mutter war, kann sie mit Sicherheit nicht stillen. Auch ihr Mann war an Tuberkulose erkrankt und sie hatten vor einigen Monaten ein weiteres Kind an diese Krankheit verloren. Unsere Kollegen vor Ort kümmern sich um die Familie so gut es geht, aber in der abgelegenen Region ist eine Behandlung von multiresistenter Tuberkulose kaum möglich. Der Familie wurde das Angebot gemacht, dass die Mutter mit dem Kind ins ST. Thomas Home zur Behandlung geht.“
Du kennst andere Projekte in Indien und auch in Bangladesch. Was ist in Jhargram gleich, was ist anders?
Sophia Ladner: „Wir haben in Jhargram ein ähnliches Konzept wie in anderen Projekten in Indien: Wir wollen rechtebasiert arbeiten und eng mit dem Staat kooperieren. So möchten wir langfristig eine Verbesserung im Gesundheitsbereich ermöglichen. Dennoch war es erschreckend zu sehen, dass in den Projektdörfern viele Menschen noch nie einen Arzt oder Ärztin gesehen haben.
Bisher betreue ich viele Projekte in städtischer Region und mir wurde wieder einmal bewusst, dass man die städtische und ländliche Armut nicht vergleichen kann. Insbesondere der Mangel an Trinkwasser und Ernährung spielt auf dem Land eine große Rolle. Dies verschärft sich klimabedingt immer weiter.“
Welches sind die drängendsten Probleme der Menschen vor Ort?
Sophia Ladner: „Die Herausforderungen vor Ort sind vielzählig und viele Punkte greifen ineinander: Die unzureichende Wasserversorgung sowie mangelnde Ernährung sind an sich bereits immense Problematiken. Dadurch werden die Menschen vor Ort verletzlicher für unterschiedliche Krankheiten. Der bisher fehlende Zugang zu medizinischer Versorgung macht sie entsprechend noch vulnerabler. Aber auch fehlende Bildung ist eine große Schwierigkeit, die es dringend zu adressieren gilt.“
Und was tun wir dagegen?
Sophia Ladner: „Es gibt eine Rolling Clinic, die zehn Standorte anfährt, und so 20.000 Menschen aus 49 Dörfern basismedizinisch versorgt. Um eine nachhaltige Unterstützung zu gewährleisten, bilden wir darüber hinaus circa 100 Gesundheitsarbeiterinnen (zwei aus jedem Dorf) aus, welche die medizinische Nachsorge erledigen und langfristig Erstansprechpartnerinnen für medizinische Belange werden. Zusätzlich verteilen wir Essen an Schulen und unterstützen beim Anbau von Nutzpflanzen, um eine dauerhafte Ernährungssicherheit zu ermöglichen. Des Weiteren bauen wir sanitäre Einrichtungen und Trinkwasseranlagen. Eingebettet sind all unsere Aktivitäten in einen Aufklärungsansatz mit vielzähligen Schulungsangeboten. Durch Advocacy-Arbeit fördern wir darüber hinaus die Zusammenarbeit mit dem Staat.“
Wie ist das Projekt weiter angelaufen? Über den Patientenandrang beim Projektstart hatte ich bereits berichtet …
Sophia Ladner: „Der Andrang besteht weiterhin. Unser Klinikteam behandelt circa 200 Patientinnen und Patienten pro Tag. Seit dem 6. November arbeiten auch zwei Ärztinnen bzw. Ärzte zusammen mit den beiden lokalen Ärzten vor Ort. Schön zu sehen ist, wie die Zusammenarbeit mit dem Staat funktioniert. Viele Patientinnen und Patienten wurden an das staatliche Krankenhaus überwiesen und dort kostenlos weiterbehandelt.“
Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit dem Projektpartner und den lokalen Mitarbeitenden?
Sophia Ladner: „Die Zusammenarbeit läuft sehr gut. Der Projektpartner ist sehr engagiert und hält uns transparent über alle Entwicklungen auf dem Laufenden. Ein konstruktiver Austausch wird so ermöglicht. Das lokale Team setzt leidenschaftlich die unterschiedlichen Projektkomponenten um. Manche Mitarbeitende kommen selbst aus den Dörfern und sind entsprechend sehr motiviert, die Gesundheitssituation zu verbessern.“
Welche ersten Rückmeldungen haben unsere Kurzzeitärztinnen und -ärzte nach der ersten Woche in Jhargram gegeben?
Sophia Ladner: „Sie schildern, wie bewegt sie von den vielen Schicksalen der Menschen sind. Viele gealtert aussehende Menschen kommen in die Klinik, laufen gebückt, da sie an schwerer Osteoporose leiden und haben Schmerzen. Die Einsatzärztinnen und -Ärzte sehen viele chronische, schlecht versorgte Wunden, überdurchschnittlich viele Pilzinfektionen und müssen fast jede Patientin und Patienten mit anti-parasitären Medikamenten versorgen. Auch wenn die Rahmenbedingungen schwierig, die Klinikstandorte sehr rudimentär und eng sind, beeindruckt sie das engagierte Team und die hohe Professionalität der Arbeit, die in so kurzer Zeit entwickelt wurde. Auch die Zusammenarbeit mit den lokalen Ärzten und den staatlichen Einrichtungen läuft gut.“