German Doctors: Wie sieht es in der Armensiedlung Athi River aus, wo sich unsere feste Ambulanz befindet?
Marion Reimer: „Athi River ist eine zerfledderte Ansiedlung, trocken und öde. Zwischen festen Häusern, eingezäunten und bewachten Wohnanlagen, riesigen Industriehallen und Fabriken entlang der vielbefahrenen Autobahn und der Bahnstrecke Nairobi-Mombasa leben hier in kleinen verstreuten Slums die ärmeren Menschen in Blechhütten, die notdürftig mit Plastikplanen abgedichtet sind. Sie haben kein fließendes Wasser und kaum sanitäre Anlagen. Die nicht asphaltierten Wege zwischen den Hütten sind voller Schlaglöcher und übersät mit Müll. Dazwischen wühlen Hühner und Gänse, Ziegen und Schweine im Abfall. Masai-Hirten treiben ihre mageren Rinderherden an der Autobahn entlang, die die wenigen Grasreste abweiden. Obwohl kaum 30 Kilometer von Nairobi entfernt, ist es in Athi River deutlich trockener und staubiger. Der Fluss ist fast ausgetrocknet, und viele Bäume stehen blattlos am Straßenrand.“
German Doctors: Wissen Sie, wie unsere Patientinnen und Patienten leben?
Marion Reimer: „Ja. Zusammen mit den Community Health Workern habe ich einige Hausbesuche bei bettlägerigen Patienten gemacht. In einem Raum, der nicht mehr als 10 Quadratmeter misst, lebt eine ganze Familie: Darin befinden sich ein großes Bett, ein oder zwei Sessel oder Stühle, ein kleiner Tisch, ein Gaskocher, zwei Kochtöpfe, vielleicht noch ein alter Fernseher – das ist die ganze Einrichtung. Auf Wäscheleinen hängen die Kleider. Jedes Wort aus den Nachbarhütten ist zu hören.“
German Doctors: Sie haben bei vorherigen Einsätzen auch mehrmals in unserer Slumambulanz Baraka im Hauptstadt-Slum als Ärztin gearbeitet. Unterscheiden sich die Krankheitsbilder der Patientinnen und Patienten der beiden Standorte?
Marion Reimer: „Die Krankheitsbilder sind ähnlich, allerdings gibt es in Athi River aufgrund des Mangels an sauberem Trinkwasser deutlich mehr Durchfallerkrankungen. Was mir besonders auffiel, sind die vielen unspezifischen Beschwerden vor allem bei Frauen wie Kopf-, Bauch- und Rückenschmerzen, die häufig begründet waren in Depressionen; diese Frauen sind oft ungewollt schwanger, alleinerziehend oder leiden an ihren gewalttätigen Ehemännern.“
German Doctors: Sie haben während Ihres Einsatzes die erste Rolling Clinic-Tour als Ärztin begleitet. Warum ist dieses mobile Angebot in Athi River nötig?
Marion Reimer: „Die Slumsiedlungen liegen weit auseinander. Viele Menschen können unsere Ambulanz nur schlecht erreichen. Daher erschien es sinnvoll, Sprechstunde montags bis donnerstags an vier verschiedenen Orten anzubieten. Das Team hatte bei mehreren vorangegangenen Besuchen zusammen mit den ehrenamtlichen lokalen Gesundheitskräften der Dorfgemeinschaften diese Plätze sorgfältig ausgesucht. Die Sprechstunde wurde von Beginn an sehr gut angenommen – dies bestätigt unsere Annahme eines Bedarfs und dass die Plätze gut gewählt sind.“
German Doctors: Wie läuft eine solche mobile Sprechstunde ab?
Marion Reimer: „Von unserer festen Ambulanz aus starten wir morgens mit unserem Fahrzeug, beladen mit Medikamenten und Verbandsmaterial, Stühlen und einem Zeltdach, das vor der Kirche oder Schule aufgebaut wird. Unter dem Zelt können die Patientinnen und Patienten im Schatten warten, bis sie an der Reihe sind. Sie werden - wie in den stationären Ambulanzen - registriert, es wird eine Patientenkarte angelegt, und im Triageraum werden die Vitalwerte gemessen. Dort werden auch kleinere Wundversorgungen durchgeführt, Infusionen angelegt oder intravenös Antibiotika gegeben. Falls nötig, können wir die Patientinnen und Patienten im Ambulanzwagen ohne neugierige Zuschauer untersuchen.“
German Doctors: Wie war die mobile Sprechstunde bei ihrer ersten Tour besucht?
Marion Reimer: „In den ersten beiden Wochen kamen täglich zwischen 40 und 70 Patienten zu uns. Über Mund-zu-Mund-Propaganda, aber vor allem durch die Gesundheitskräfte informierten sich die Patientinnen und Patienten über das neue Angebot. Morgens kommen vor allem Mütter mit ihren Kindern. Ab mittags wird es voll, wenn die Arbeiter nach ihrer Schicht zur Sprechstunde kommen.“
German Doctors: Welche Tests, neben der ärztlichen Anamnese und Untersuchung, konnten Sie bei der Rolling Clinic durchführen?
Marion Reimer: „Es gibt Schnelltests für Malaria, Schwangerschaft, Blutzucker und Urinstatus. Für weitere Laboruntersuchungen, für Sonographie oder Physiotherapie können wir die Patientinnen und Patienten nach Fanaka in unsere feste Ambulanz schicken oder bei Notfällen mit dem Ambulanzwagen transportieren. Leider werden vom kenianischen Staat kaum noch HIV-Tests zur Verfügung gestellt, sodass viele Patienten ihren Status nicht kennen und daher auch nicht behandelt werden können.“
German Doctors: Welche Patientinnen und Patienten bleiben in Erinnerung?
Marion Reimer: „Viele. Insbesondere aber ein 107 Jahre alter Mann, der eigentlich nur seine 80-jährige Tochter zur Sprechstunde begleitete. Eine 15-Jährige, die nicht weiß, wie sie schwanger wurde, und ein kleiner Junge, der mit Cholera-Durchfall morgens fast bewusstlos und hoch fiebernd in die Ambulanz kam und abends nach Infusionen und Antibiotika wach und fieberfrei nach Hause entlassen werden konnte.“