Tuberkulose muss kein Todesurteil sein
In unserem Projekt in Kalkutta und der Nachbarstadt Howrah steht die Bekämpfung der Tuberkulose im Mittelpunkt. Folgerichtig, denn Indien zählt zu den Ländern mit der höchsten Rate an Tuberkulosekranken: Geschätzte 2,84 Millionen sind erkrankt. 2015 starben nach WHO Schätzungen weltweit 1,4 Millionen Menschen an der Krankheit, 480.000 davon in Indien. In unseren Slumambulanzen identifizieren unsere ehrenamtlichen Kurzzeitärzte aus Deutschland auch Tuberkulosepatienten, neben vielen anderen Erkrankungen. Starker Gewichtsverlust und lange anhaltender, heftiger Husten sind häufig Symptome einer Lungentuberkulose. Allerdings kann das Tuberkulosebakterium auch andere Organe befallen wie Gehirn, Wirbelsäule oder Niere. Die Diagnose ist nicht einfach, vor allem da unsere Ärzte die Krankheit aus ihrem Arbeitsalltag in Deutschland nicht mehr kennen. Hier gibt es seit vielen Jahren kaum noch Krankheitsfälle.
In unserem Projekt werden 800 Tuberkulosekranke pro Jahr identifiziert und behandelt. Die Heilungschance liegt für Indien bei 74 Prozent, ist also recht gut. Allerdings müssen über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten regelmäßig Medikamente eingenommen werden. Die Patienten bekommen die Tabletten nicht mit nach Hause, sondern müssen täglich zu einem Zentrum kommen, wo sie die Tabletten unter Aufsicht einnehmen. Die German Doctors unterhalten neun solcher wohnortnahen Zentren. Diese weltweit praktizierte Vorgehensweise verhindert den Handel mit den Medikamenten, stellt die Patienten aber vor die Herausforderung, Medikamenteneinnahme und Job zeitlich vereinbaren zu müssen. Denn Krankschreibungen gibt es für unsere Patienten nicht. Sie sind in der Mehrzahl Tagelöhner und Rikschafahrer ohne Sozialversicherung – fallen sie krankheitsbedingt aus, gibt es kein Einkommen. Daher unterstützen wir besonders bedürftige Patienten finanziell, um zu verhindern, dass diese nach der ersten Linderung die Therapie abbrechen, um wieder zu arbeiten. Nach nur kurzer Zeit stellen sich solche Patienten erfahrungsgemäß wieder vor, da die Beschwerden wiederkommen. Oftmals wirken durch den Therapieabbruch die üblichen Medikamente nicht mehr; das Bakterium ist resistent geworden und der Patient muss mit aggressiveren Medikamenten über einen noch längeren Zeitraum therapiert werden. Die Zahl der Inder mit der gefürchteten resistenten Variante der Tuberkulose schätzt die World Health Organization auf 79.000.
Für diese Patienten unterhalten wir stationäre Bereiche. Auf unserer Kinderstation, dem Pushpa Home, können 35 besonders schwer erkrankte Kinder aufgenommen werden. Auf unserer Frauenstation ist Platz für 45 Frauen mit besonders schwerer therapieresistenter Tuberkulose.
Häufig erfolgt die Ansteckung innerhalb der Familie. Wie bei der 3-jährigen Sanowar, die zusammen mit ihrer 5-jährigen Schwester und ihrer Mutter zu uns kam. Initial ging es um die Mutter, die sehr krank war und kaum noch laufen und auch nichts mehr essen konnte. Sie hustete furchtbar viel und war stark abgemagert. In unserem Krankenhaus wurde dann schnell klar, dass nicht nur die alleinerziehende Mutter, sondern auch beide Töchter mit Tuberkulose infiziert sind – alle drei leiden an einer resistenten Variante. Daher bedarf es noch einiger Monate stationären Aufenthalts, bis die drei wieder nach Hause gehen und dort die Therapie ambulant weiterführen können. Erfreulicherweise hat sich der Zustand der Mutter schnell gebessert: Sie isst wieder mit viel Hunger, nimmt an Gewicht zu und kommt so wieder auf die Beine. Auch die beiden Mädchen sind aktiv und genießen es, im Garten der Klinik mit den anderen Kindern zu toben und zu spielen.
In unsere Bemühungen im Kampf gegen die Tuberkulose beziehen wir die Heiler der Slums, auch Quacksalber genannt, mit ein. Häufig sind sie die erste Anlaufstelle für die Menschen im Krankheitsfall. Um zu verhindern, dass resistente Varianten der Tuberkulose durch falsche oder unregelmäßige Medikamentengabe entstehen, schulen wir die Heiler und arbeiten mit ihnen zusammen: Sie schicken uns Verdachtsfälle, um den Tuberkulosetest durchzuführen. Im Gegenzug erhalten sie eine kleine Entlohnung wie beispielsweise Vitamintabletten, die sie ohne Schaden an ihre Patienten weitergeben können. Bestätigt sich der Verdacht, können sie „ihren“ Patienten weiter behandeln. Dafür haben wir sie speziell geschult und stellen ihnen die benötigten Medikamente zur Verfügung. Nur so gelingt es uns, der Tuberkulose-Epidemie und vor allem der Gefahr, die von den Resistenzen ausgeht, zu entgehen zum Wohl unserer Patienten. Es gibt leider noch viel zu tun, bis auch in Indien Tuberkulose keine Rolle mehr spielt...