Alternative Heilmethoden erschweren Arbeit
Frakturen sind wegen der harten Lebensbedingungen, dem hohen Aufkommen körperlicher Arbeit und der schlechten Straßenverhältnisse in unserem Projektland Sierra Leone häufig. Krankheiten werden dort häufig als Flüche für eine soziale Fehlleistung gesehen. Das heißt, neben dem Körper muss auch der Geist genesen. Deswegen sind traditionelle Heiler in den meisten Fällen die erste Anlaufstelle für die Menschen, um diese Flüche, also die Krankheit, auszutreiben. Die traditionelle westafrikanische Medizin wendet bei Frakturen eine konservative Therapie an. Der verletzte Körperteil wird mit einer speziell gemischten Kräuterpaste zur Förderung der Heilung, gegen die Schmerzen und zum Abklingen der Entzündung behandelt. Außerdem wird die Bruchstelle mit Hilfe einer Schienung, bestehend aus fest geschnürten gespleißten Bambusstäben, ruhiggestellt. Als Polster dient ein dünnes Tuch, was ebenso gut als Rock, Umhang, Decke oder Handtuch dienen kann. Diese Art der Ruhigstellung wird „native“ oder „herbal splint“ genannt. Häufig verursacht die Schiene an der dünnen verletzlichen Haut über der Fraktur Wunden, über die sich dann der Knochen entzünden kann. Die Fraktur kann dann nicht heilen, im schlimmsten Fall schreitet die Knochenentzündung fort und zerstört die gesamte, von diesem Knochen abhängige Gliedmaße. Sie kann sich aber auch als chronische eiternde Entzündung verkapseln und eine chronisch entzündete Schwachstelle oder ein Falschgelenk zurücklassen. Wenn der schlimmste Fall eintritt, nämlich Fäulnis oder noch schlimmer Wundbrand, bleibt nur noch eine Amputation, um das Leben des Patienten zu retten.
Amputationen rufen in Sierra Leone schlimme Erinnerungen an den verheerenden Bürgerkrieg wach, der von 1991 bis 2002 wütete. Gegner der Rebellenbewegung wurden vor der Wahl Hände und Arme abgehackt, damit sie ihren Daumenabdruck nicht den politischen Gegnern geben konnten. Außerdem ist eine Prothesenversorgung in Sierra Leone nur extrem selten möglich, das Umfeld ist nicht rollstuhlgerecht und der Lebensunterhalt mit einer solchen Behinderung meist nicht mehr zu verdienen. Die Möglichkeiten einer Phantomschmerzbehandlung sind ebenfalls unzureichend. Ein Teufelskreis also, der ganz unwillkürlich zu einer negativen Mund-zu-Mund-Propaganda für die westliche Medizin führt: „Gehst Du mit einer Fraktur ins Krankenhaus, wirst du amputiert“ - ein Dilemma, vor dem wir stehen, denn nur frische Knochenbrüche lassen sich ohne negative Folgen therapieren.
Zweimal ist bislang bei Klinikangehörigen eine sozusagen komplementäre Frakturversorgung in unserem Krankenhaus erfolgt - ein traditioneller Heiler und ein German Doctor arbeiteten zusammen. Die einheimischen Kollegen hatten selbst danach gefragt, ob man die traditionelle Medizin nicht mit der Schulmedizin kombinieren könnte. Ihre Arbeit mit uns hatte ihnen gezeigt, dass die traditionelle Schienung oft riskant sein kann und leicht an ihre Grenzen kommt, und dass „unsere“ Schmerzmittel zum Einrichten des Bruches wirkungsvoller sind auch wenn wir keine Kräutermedizin einsetzen. Daher wollen wir die Zusammenarbeit zwischen westlicher Schulmedizin und traditionellem Heiler in Zukunft ausbauen. Auch in der Entwicklungszusammenarbeit favorisieren die westlichen Nicht-Regierungsorganisationen die konservative Frakturbehandlung mit Gipsen, speziellen Schienen, sog. Orthesen, Extension oder externen Fixateuren. Denn bei der operativen Versorgung mit verschraubten Platten oder Nägeln können bei mangelnder Sterilität schwere Infektionen in die Knochen und in die Gelenke geschleppt werden. Man entscheidet sich also für die etwas langwierigere, aber dafür sicherere Behandlung.
„Ein bisschen Bammel hatte ich schon, ob da wirklich genügend Offenheit sein würde“, berichtet Dr. Katja Maschuw, Chirurgin und Einsatzärztin zu dieser Zeit, die das Experiment wagte. „Aber ich ließ mich darauf ein.“ Die einheimischen Kollegen hatten ihr versichert, dass die traditionellen Heiler wegen unserer Behandlungserfolge und unseres unermüdlichen Einsatzes für die Menschen in Serabu große Achtung vor unserer Medizin hätten- und das stimmte. Heiler und Einsatzärztin wurden miteinander bekannt gemacht und stellten sich dann dem Patienten vor. Sie erklärten einander die jeweiligen Behandlungsprinzipien, sahen die jeweilige andere Seite und respektierten diese. Dann erklärten sie dem Patienten, wie die Behandlung ablaufen würde. Die Fraktur, eine komplette Unterschenkelfraktur, wurde nach einer Schmerzbehandlung in Narkose gerichtet, der betroffene Körperteil mit der traditionellen Kräuterpaste versehen und eine Orthese angelegt. Das Ergebnis war sehr gut. Frakturen und Wunden verheilten ohne Komplikationen und die benachbarten Gelenke sind wieder voll funktionsfähig. „Besser kann es nicht laufen, im wahrsten Sinne des Wortes. Noch ein Jahr später hat sich der Patient für die gute Behandlung bedankt“, erinnert sich die deutsche Chirurgin.
Die Arbeitsgruppe aus engagierten German Doctors zum Thema „Chirurgie“ hat unter der maßgeblichen Initiative des langjährigen Einsatzarztes Dr. Uli Bauer an der Verbesserung der Frakturbehandlung in Sierra Leone gearbeitet. Das Ergebnis: Die Einrichtung einer digitalen Röntgenanlage und die Einführung eines Extensionstisches sowie externer Fixateure. Diese Methoden sollen nun im kommenden Jahr zur Erstversorgung von Frakturen eingeführt und in das Ausbildungskonzept der Clinical Health Officer (CHO) integriert werden. Die einheimischen Kollegen sollen geschult werden, Patienten mit dieser Behandlung fachgerecht zu versorgen und die benötigten Materialen steril aufzubereiten.
Die besten Ergebnisse werden natürlich erzielt, wenn die Fraktur frisch ist. Deswegen ist der Kontakt zu den traditionellen Heilern immens wichtig. Unsere Einsatzärztin Dr. Katja Maschuw wird von Mai bis September 2017 in Sierra Leone arbeiten, um die neuen Geräte einzuführen, die Mitarbeiter zu schulen und die Zusammenarbeit mit den Heilern zu suchen. Sie ist dank ihrer langjährigen Erfahrungen in Serabu und den ersten Kontakten zu den traditionellen Heilern optimistisch: „Die Verletzungen beider Patienten sind durch die kombinierte Behandlung sehr gut verheilt. Es wird natürlich Skepsis geben, da werden Rückschläge und Frustration kommen. Aber Respekt ist der Schlüssel zu allen Türen! Auch wenn es ein langer Weg werden wird, wir werden ihn gemeinsam finden für die Menschen von Serabu.“
Dr. Maschuw wird außerdem das chirurgische Ausbildungsprogramm festigen, neue CHOs ausbilden und unsere Langzeitärztin Dr. Christa von Oertzen während deren Urlaubszeit zu vertreten: „Ich freue mich schon wahnsinnig auf den Einsatz! Ich freue mich, all die Menschen wieder zu sehen, mit denen ich schon seit über sechs Jahre immer wieder zusammenarbeite. Ich freue mich darauf, ein Stück auf ihrem Weg mitgehen zu dürfen. Wir teilen dabei die Freude, wenn Patienten, vor allem Kinder, das Krankenhaus gesund verlassen. Das sind großartige Momente, wo alle Unterschiede aufgehoben sind! Wir teilen auch den Schmerz, wenn all unsere Bemühungen versagen oder wir an die Grenzen unserer Möglichkeiten kommen. In Serabu ist man nie alleine - einsam allerdings manchmal schon, die Kultur ist einfach so anders, mystisch und magisch irgendwie.“
Dr. Katja Maschuw ist Fachärztin für Chirurgie und Viszeralchirurgie, arbeitet seit 2005 in regelmäßigen Einsätzen ehrenamtlich für die German Doctors und engagiert sich seit 2016 auch im Präsidium des Vereins. Seit 2011 zieht es sie immer wieder nach Sierra Leone . Der anstehende Einsatz wird ihr zehnter Einsatz mit den German Doctors sein. Wir wünschen Dr. Maschuw dafür von Herzen alles Gute!