Der fatale Kreislauf der Armut

Ein Bericht von Einsatzarzt Dr. Andreas Wolf aus Dhaka

Dr. Wolf bei der Untersuchung

Jeden Tag schiebt sich das Medizinische Team durch den Verkehr der extrem dicht besiedelten Mega-City Dhaka. In jede Lücke stoßen Autos, Busse, Fahrradrikschas, Karren, Mopeds, CNGs (aus anderen asiatischen Ländern als Tuk-Tuks bekannt) vor, nur um wieder zum Stillstand zu kommen, dazwischen Menschen überall, die sich durch den stockenden Verkehr schlängeln, um irgendwie ihr Ziel zu erreichen. Der Verkehrslärm ist ohrenbetäubend und die Abgase nehmen die Luft zum Atmen. Die Fahrer der Rikschas und CNGs, die Männer, die mit ihrer Muskelkraft Karren mit Zement, Ziegeln, Stahlstreben oder Lebensmitteln hinter sich herziehen, inhalieren mit jedem Atemzug die toxische Luft. Dazu kommt der Rauch aus Ziegelbrennereien und Fabriken aber auch aus den Tonöfen der Slums, in denen die Menschen u.a. Textilreste, Gummi und Plastikabfälle verbrennen, um sich eine Mahlzeit zuzubereiten, da andere Brennstoffe für sie nicht bezahlbar sind. Wenn man mit offenen Augen durch diese Stadt fährt, versteht man, dass wir als Ärzte eine hohe Zahl von Patient(inn)en mit schweren chronischen Erkrankungen der Atemwege behandeln, sie leiden unter starker Luftnot und müssen dennoch irgendeiner schweren Arbeit, z.B. als Tagelöhner auf einer Baustelle nachgehen, um sich und ihre Familie einen weiteren Tag zu ernähren. Der chronische Entzündungszustand der Lungen begünstigt darüber hinaus Infektionen der Atemwege, wie z.B. Lungenentzündungen.

Jeder Tag ein Kampf ums Überleben

In Dhaka gibt es viele verschiedene Transportmittel

Die Slumgebiete sind an verschiedenen Stellen der Stadt „eingestreut“, sie können zwischen den Gebäuden einer besseren Wohngegend, aber auch am Rande von Straßen und v.a. auch im Verlauf von Bahngleisen liegen. Die Menschen leben buchstäblich direkt am Straßenrand bzw. neben dem Gleis. Die Kinder spielen am Straßenrand und auf den Gleisen, regelmäßig gibt es schwere Unfälle. Die Ärmsten der Armen haben so wenig, dass das staatliche Gesundheitssystem für sie oft nicht erreichbar ist. Jeder Tag ist ein Kampf ums Überleben, der keine Zeit lässt, ein Krankenhaus aufzusuchen, geschweige denn das Geld für den Transport dorthin oder gar für die Medikamente aufzubringen. Dadurch, dass wir mit den German Doctors direkt zu den Menschen fahren und nicht nur die Untersuchung gewährleisten, sondern auch die erforderlichen Medikamente zur Verfügung stellen, erhalten die Ärmsten der Armen überhaupt erst Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung. Die unhygienischen Zustände in den Slums, aber auch die Mangelernährung der Menschen begünstigen viele Infektionskrankheiten, die sich rasch ausbreiten können. Hautpilze, Krätze, Wurmbefall, Durchfall aber auch Tuberkulose sind unsere täglichen Begleiter.

Was mich beeindruckt und zugleich bekümmert, ist die unglaublich große Leidensfähigkeit der Patientinnen und Patienten, die oft mit seit Monaten und Jahren bestehenden Beschwerden zu uns kommen und nun erstmals ihre Chance ergreifen und die kostenlose Sprechstunde der German Doctors aufsuchen. Mehrmals habe ich in der kurzen Zeit hier Männer und Frauen mit schweren Rheumaerkrankungen gesehen, deren chronische Gelenkentzündung zu starken Schmerzen und Gelenkschäden führt, die ihnen nicht nur Leid bereiten, sondern auch der Fähigkeit berauben, ihrer Arbeit nachzugehen und den Lebensunterhalt der Familie zu verdienen. Schnell schließt sich der fatale Kreislauf, in dem Armut Krankheit bedeutet und Krankheit Armut.

Eine kurze Kindheit

Trotz der Strapazen immer ein Lächeln im Gesicht

Das Spektrum an Erkrankungen unterscheidet sich deutlich von dem, was ich von zu Hause gewohnt bin. Wir sind Ansprechpartner für alle, vom Säugling bis zum Greis, für Männer und Frauen, egal ob das Ohr weh tut, die Haut juckt, die Knochen schmerzen, die Luft knapp ist. Und wir können helfen, insbesondere bei den infektiösen Erkrankungen, z.B. Ohren- und Mandelentzündungen, Lungenentzündung, Bronchitis, Wurmerkrankungen und Hautpilzen, stehen uns gute Medikamente zur Verfügung, die zur Heilung führen. Bei Asthma und chronischer Bronchitis können wir die Luftnot lindern. Oft behandeln wir Schmerzen, die die Patienten an Rücken, Armen und Beinen haben, was uns nicht wundert, wenn wir ihre harten Lebensbedingungen sehen und ihre schwere körperliche Arbeit beobachten. Das, was bei uns seit Jahrzehnten Maschinen erledigen, ist hier ganz oft noch Handarbeit mit einfachsten Werkzeugen.

Leider habe ich immer wieder beobachtet, dass die Kindheit hier nicht lang dauert und die Kinder viel zu früh und in aller Härte im Ernst des Lebens ankommen müssen. Das bedeutet auch, dass sie oft nur in die Grundschule gehen und noch im Kindes- oder Jugendalter beginnen zu arbeiten, um den Familienunterhalt mitzuverdienen. Ich erinnere mich besonders an ein knapp 8-jähriges Mädchen, das ganz offensichtlich bettelarm in schmutziger, halbzerrissener Kleidung ganz allein zur Sprechstunde kam, weil Ihre Eltern keine Zeit hatten, sie zu begleiten, da sie arbeiten bzw. die kleineren Geschwister betreuen mussten. Das Mädchen war nichts desto trotz erfrischend freundlich und fröhlich, eine Gewitztheit und Lebensfreude blitzte aus ihren Augen, die sich mir mehr eingebrannt hat als ihre Armut! Es gibt sie immer wieder, diese Momente während der Sprechstunde, ein Blick, ein Lächeln, ein Gruß voller Dankbarkeit, der mir bedeutet, dass es richtig ist, hier zu sein und ein kleines bisschen zu helfen, auch wenn ich nicht die Welt verändern kann.