Ein Gefühl von Zufriedenheit

Ein Bericht von Einsatzarzt Dr. Norbert Kohl aus Mindoro

Ein Besuch beim Arzt ist nicht jedermanns Sache

Mindoro ist die siebtgrösste Insel der Philippinen, mit einer Bevölkerung von ca. 1 Million Einwohnern. Das Gesundheitssystem der Philippinen ist außer in wenigen städtischen Sektoren mangelhaft, laut länderkundlichen Informationen haben nur ca. 50-60 % der Bevölkerung auf den Philippinen Zugang zu ausreichender medizinischer Versorgung. Zielgruppe der German Doctors auf Mindoro sind vor allem die Eingeborenen (Mangyans), die größtenteils in abgelegenen Bergregionen unter einfachsten Bedingungen leben und praktisch keinen Zugang zu ärztlichen Leistungen haben.

Ein Mitglied der indigenen Bevölkerung, der Mangyanen

Von zwei Stützpunkten im Osten der Insel (Socorro bzw. Calapan  und Mansalay) starten täglich zwei Teams mit je einem German Doctor, einem Fahrer und drei Krankenschwestern oder midwifes (Hebammen) zu einzelnen Bergdörfern, wo die Menschen der Umgebung ärztlich untersucht und behandelt werden. Die rolling clinics führen auf der Ladefläche eines Jeeps in großen Kisten die wichtigsten Medikamente und notwendigen ärztlichen Utensilien mit. Die medizinische Behandlung inkl. der Medikamente ist kostenlos. In der Regel wird jedes Dorf in vierwöchentlichem Rhythmus besucht, täglich werden zwischen 40 und 120 Patienten versorgt. Manchmal kommen diese in langen Fußmärschen zur Sprechstunde, manchmal auch mit Mopeds aus entfernteren Dörfern.

Ein früher Start in den Tag…

Klein, aber fein – unser Sprechzimmer auf Mindoro

Es war mein siebter Einsatz für die German Doctors und der fünfte auf den Philippinen. Im Projekt in Mindoro hatte ich allerdings noch nicht gearbeitet und ich hatte zunächst etwas Schwierigkeiten, mich einzugewöhnen. Es war nachts heiß und laut und der Schlaf entsprechend kurz und es gab im den ersten Wochen viele und teilweise auch schwierige Patienten. Ich berichte von einem typischen Tag: Morgens um kurz nach 6 Uhr klingelt das Handy, ich bin schon wach, denn seit über zwei Stunden krähen die Hähne. Nach einer kurzen, kalten Dusche und einem kleinen Frühstück (wahlweise Reis mit gesalzenem Fisch oder Toast mit Marmelade) geht es um 7 Uhr mit dem Jeep los. Am Anfang sind wir mit dem Fahrer zu sechst, weil noch ein Zahnarzt dabei ist. Die Ladefläche hinten ist voll mit Medikamenten-Kisten u.a. Zubehör (auch Tisch u. Liege) und auf dem Dach noch Plastikstühle. Nach 30-60 Min. Fahrt, meist hoch in die Berge über holprige Schotterwege, manchmal auch durch Flüsse, kommen wir einem Dorf an, das bedeutet in den meisten Fällen eine Ansammlung von 10-20 strohgedeckten Bambushütten. Im Nu wird das Auto ausgeladen, wobei alle mithelfen, manchmal auch einzelne der schon wartenden Patienten oder der lokalen health-worker. In einfachen Bambushütten, zum Teil auch unter freiem Himmel, werden Anmeldung und Apotheke aufgebaut sowie der ärztliche Behandlungsraum. Alles ist sehr provisorisch und einfach, manchmal wird mit Tüchern ein Stück Privatsphäre hergestellt.  Dann werden die Patienten der Reihe nach registriert, es wird der Grund der Vorstellung und die Krankheitsgeschichte kurz erfragt, Blutdruck, Temperatur und Gewicht werden gemessen und dies wird in die Karteikarte eingetragen. Vor allem bei Kindern ist das alters- und größenbezogene Gewicht sehr wichtig, weil immer wieder unterernährte Kinder kommen. Parallel dazu hält eine Mitarbeiterin vor den wartenden Patienten einen Vortrag über Ernährung, Zahnhygiene, Familienplanung oder spezielle Erkrankungen, wie z.B. Tuberkulose.

Behandlungen für die ganze Familie

Viele junge Patienten leiden bereits unter der Tuberkulose

Heute kommen zunächst einige Mütter mit Kleinkindern, mehrere haben eine banale Erkältung, einige aber auch eine Lungenentzündung. Einen Säugling mit Lungenentzündung will ich ins Krankenhaus schicken, die Mutter lehnt das aber ab, also begnüge ich mich mit der Gabe eines starken Antibiotikums und eines Fiebermedikaments und hoffe, dass das gut geht. Dann kommen einige ältere Patienten mit Bluthochdruck und Zuckerkrankheit. Ein älterer Mann trägt auf Händen seine Frau herein, sie hatte einen Schlaganfall und bekommt von uns Medikamente gegen hohen Blutdruck und zur Blutverdünnung. Ich sehe noch mehr Schlaganfall-Patienten an diesem Tag, erschreckend ist, dass auch Jüngere dabei sind. Zwei junge Erwachsene kommen wegen Medikamenten für ihre Epilepsie; wir haben nur zwei zur Auswahl und versuchen, diese zielgenau und in der geringsten wirksamen Dosis zu verordnen. EEG-Ableitungen sind nicht verfügbar. Im Laufe des Tages sehe ich mindestens 5 Patienten mit schweren Pilzerkrankungen auf der Haut, die wir gut behandeln können, auch wenn die Behandlung oft langdauernd ist. Zwischendurch sehe ich immer wieder Patienten, auch Kinder, mit eitrigen Hauterkrankungen, die oft schon länger bestehen und die wir in der Regel antibiotisch behandeln, außerdem Patienten mit Kopfläusen, Wurmerkrankungen und Krätze. Meist muss man hier die gesamte Familie behandeln.

Rudimentäre Hütten dienen als Behandlungszimmer

Eine Patientin mit Epilepsie kommt, die als Kind von ihrem Vater längere Zeit missbraucht wurde und jetzt neben 5 Kindern einen gewalttätigen Ehemann hat. Wir sprechen länger mit ihr, bieten ein  Gespräch mit dem Ehemann an, der aber nicht kommen will. Sie verträgt die Epilepsie-Medikamente nicht, und bittet um andere, welche wir auch verabreichen. Am Ende bettelt sie mich um Geld an. Dann sehe ich eine 15-jährige Schwangere, eine mangyan (Eingeborene), die zur Vorsorge kommt. Sie ist sichtlich stolz auf ihre Schwangerschaft. Ich werde in dieser Tour noch einige, in unsern Augen Minderjährige, sehen, die schwanger und stolz darauf sind. Zwei Frauen mit riesigem Jodmangelkropf kommen in die Sprechstunde und hätten gerne eine Operation, die aber meistens nur durchgeführt wird, wenn es zu Schluckbeschwerden kommt. Anders bei den Überfunktionen der Schilddrüse, die wir relativ oft sehen, diese werden, wenn die medikamentöse Behandlung versagt, gelegentlich auch operiert.

Immer wieder habe ich bei einzelnen Patienten den Verdacht auf Tuberkulose: Sie husten seit Wochen, manchmal auch Blut, schwitzen nachts, nehmen an Gewicht ab, sind ausgezehrt. Sie bekommen eine ausführliche Untersuchung und werden dann in das staatliche Tuberkulose-Programm eingegliedert. Unbehandelt ist die Tuberkulose eine schwere, langwierige, oft zum Tode führende Erkrankung, meist der Lunge, manchmal aber auch der Lymphknoten oder der Wirbelsäule. Zwei Mal in dieser Tour sehe ich Kinder mit Wirbelsäulen-Tuberkulose und Querschnittlähmung.

Eine ausgeprägte Knochentuberkulose

Motiviert durch Dankbarkeit

Nach der kurzen Mittagspause, in der wir das mitgebrachte Essen unter einfachen Bedingungen verzehren, kommt eine Mutter in die Sprechstunde, sie trägt auf dem Arm ein Kind, das offensichtlich behindert und vor allem massiv unterernährt ist. Es ist 8 Jahre alt, wiegt 8,3 kg (so viel wie normalerweise ein Kind zu Beginn des 2. Lebensjahres), misst 83cm, hat wurmartige Bewegungen und auch eine Schluckstörung. Ich denke an eine bestimmte genetische Erkrankung und weise dieses Kind zur weiteren Diagnose und Therapie (z.B. Ernährungssondierung) ins Krankenhaus ein. Diesmal sagt die Mutter zu. Dabei muss man wissen, dass man die wenigen Krankenhäuser, die es in Mindoro gibt, nicht mit unseren vergleichen kann und dass die Eingeborenen dort oft sehr schlecht behandelt werden. Am Ende des Tages kommt noch ein Mann zu mir, der über wiederkehrende starke Schwellungen des Beines klagt. Ich kann eine Thrombose und eine Infektion weitgehend ausschließen, denke auf Grund bestimmter Symptome an eine spezielle Wurmerkrankung, die durch Mücken übertragen wird und bei der die dünnen Würmer die Lymphgefäße verstopfen. Danach kommen noch einige „normale“ Patienten mit Herzschwäche bzw. Harnwegsinfekten u.ä. und ein Mädchen mit einer Kopfplatzwunde, dann ist die Sprechstunde zu Ende. Die Mitarbeiterinnen müssen noch ihre Dokumentation zu Ende führen, danach wird der Jeep, schon in der Dämmerung, wieder eingeladen und mit oder nach Einbruch der Dunkelheit sind wir wieder in unserer Basis, wo ich mich erstmal erschöpft aufs Bett schmeiße, bevor ich dusche und zu Abend esse.

Junge Familie auf Mindoro

Den Rest des Abends verbringe ich unter meinem Moskitonetz auf dem Bett, schaue im Lehrbuch ein paar medizinische Fälle nach, denke über das Leben nach und schaue in eins der vielen Bücher, die ich in diesen 6 Wochen lesen werde. Dann versuche ich früh einzuschlafen, um morgens wieder fit zu sein, was nicht richtig gelingen will. Dennoch verspüre ich ein Gefühl von Zufriedenheit, Erfüllung und existentiellem Erleben, was mir in Deutschland oft fehlt. Das Lachen der Kinder und die Dankbarkeit und Freundlichkeit der meisten Patienten entschädigen außerdem für die Anstrengungen der Reise und der Arbeit.