Die Armut weltweit nimmt zu
Ein Bericht von Einsatzarzt Dr. Joachim Dörges aus Serabu
„Hilfe, die bleibt“, das ist das Motto der German Doctors. Nach zwei Vorbereitungsseminaren einmal in Bonn und zum anderen im Missionsärztlichen Institut in Würzburg stand mein Einsatz als Chirurg in Serabu in Sierra Leone fest – die Armut weltweit ist so groß und ich wollte gerne helfen. Nach der Landung des Airbus in Freetown wechselt die Realität. Obwohl es schon 18 Uhr Ortszeit ist strahlt die Sonne von einem wolkenlosen Himmel, wenigstens 30°C im Schatten. Beide Koffer sind in der Maschine mitgekommen, was auf dieser Strecke nicht selbstverständlich ist. 38 Kilo Gepäck – unter anderem Gipsbinden und reichlich anderes medizinisches Material aus der Zentrale der German Doctors in Bonn. Erste Eindrücke im Bild festgehalten. Die kurze Fahrt ist schon sehr holperig. Unterkunft in der Villa Klett, es gibt Süßkartoffeln und Hühnerbein. Ein Klimagerät und ein Moskitonetz wie aus 1000 und 1 Nacht, ich kann es nicht richtig spannen, bin auch zu k.o. – es hängt mir in der Nacht mehrfach im Gesicht.
Bis nach Serabu ist es ein weiter Weg…
Am nächsten Morgen wird früh losgefahren. James, der Fahrer, musste irgendwo auf der Couch übernachten. Wir halten noch vor einer Hütte und nehmen Sachen mit. Dann geht es über die Super-Teerstraße nach Bo. Die Straße ist ein Kompensationsgeschäft einschließlich Bahnstrecke finanziert von einer chinesischen Minengesellschaft, die hier Schürfrechte für das Aluminium-Erz Bauxit hat. Die Schlaglöcher in der Straße sind teilweise sehr umfangreich nur wenige sind schon mit Teer aufgefüllt, die anderen sauber markiert, aber wehe man fährt da mit 100 km/h rein. Die Hupe ist das wichtigste Hilfsmittel. Es ist Samstag, das ganze Volk ist auf den Beinen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, viele Fußgänger, Motorräder, selten nur mit zwei Personen besetzt, hochgeladenen Taxis, Fahrräder (die eher selten), Karren aller Art, teils umfangreiche Ladungen auf dem Kopf der Frauen. Mehrere Polizeisperren mit sehr einfachen Mitteln bewerkstelligt, wir werden nicht kontrolliert, das grüne Schild „German Doctors“ am Wagen bewirkt mehr als der Reisepass. In den etwas größeren Dörfern sind spezielle Schwellen auf der Straße, die sind so fies, da muss man langsam fahren. Liegengebliebene Lastwagen mitten auf der Straße sind mit Grasbüscheln markiert. Wir kaufen unterwegs Ananas ziemlich frisch vom Baum. Es wird gefeilscht und es stehen mehrere Jugendliche da und wollen den Zuschlag. In den Dörfern höre ich zum ersten Mal die Kinder rufen: „pumui“; es bedeutet „Weißer“ oder „10-Zehen/Finger-Mensch“ wegen der Schuhe. Die Afrikaner laufen barfuß: 20 Zehen/Finger! Zwischen Bo und Serabu gibt es eine Piste – eine harte Strecke im wahrsten Sinne des Wortes. Bei Ankunft Begrüßung durch die Mannschaft: Christa die Gynäkologin und Langzeitärztin, Frithjof der Anästhesist und Frieder der Kinderarzt, alle schon mir teilweise reichlich Afrika-Erfahrung. Kaltes Wasser und eine gekühlte Cola: Herrlich. Die Dusche wunderbar. Christa zeigt mir das Krankenhaus.
Niemand wird abgewiesen
153 Betten verteilen sich auf Innere Medizin, Chirurgie, Gynäkologie und Geburtshilfe und Pädiatrie. Außerdem gibt es noch eine große Ambulanz, ein Labor und eine Apotheke. Strom kommt aus der Solaranlage oder nachts auch mal zusätzlich aus dem Dieselgenerator. Sauberes Trinkwasser aus einem eigenen Brunnen. Die gesamte Pflege muss von den Verwandten geleistet werden, Schwestern und Pfleger legen Zugänge, sind für die Medikamentengaben verantwortlich, machen bei den Verbänden mit, übersetzen die Ortssprache ins Englische und sorgen für die administrativen Notwendigkeiten. Für Kinder unter 5 Jahren, für Schwangere und stillende Mütter ist die Behandlung komplett kostenfrei, da kommt etwas Geld vom Staat, alle anderen müssen einen kleinen Beitrag zahlen. Das ist für viele unmöglich. Das Pro-Kopf-Einkommen am Tag liegt durchschnittlich bei 1,35€, ein Verbandswechsel kostet 1,75€… Es wird aber niemand abgewiesen, wenn er kein Geld hat. Dass die Gehälter der Mitarbeiter bezahlt werden können, ist allein durch die Spenden sichergestellt. Ein wichtiger Beitrag, um die Armut weltweit zu bekämpfen. Die ärztlichen Aufgaben vor Ort werden durch die Clinical Health Officers (CHOs) geleistet. Das Hospital in Serabu beteiligt sich an der praktischen Ausbildung im Rahmen der 3-jährigen theoretischen Ausbildung an der Fachschule im benachbarten Bo.
Das Ziel ist die Befähigung zur Leitung eines lokalen Gesundheitszentrums; es gibt 1.228 Peripheral Health Units (PHU) und momentan ca. 500 ausgebildete CHOs. Eine Weiterentwicklung wird unterstützt durch capa care, einer norwegischen Organisation. Dauer: Drei zusätzliche Jahre, nach Abschluss ist man Surgical Assistent, der in der Lage ist, grundsätzlich selbständig Leistenbrüche und Kaiserschnitte zu operieren. Es gibt zwei OP-Räume: „Europa“ mit Klimaanlage für saubere Eingriffe und „Afrika“ für alles Septische mit den ortsüblichen 30°C. Die Ausstattung ist einfach, aber vollkommen ausreichend. An Diagnostik stehen zwei Ultraschallgeräte zur Verfügung und ein digitales Röntgengerät, leider aber anfällig und das Ersatzteil kam erst in den letzten 10 Tagen meines Aufenthaltes. Im hochtechnisierten Europa wird ja gern den technischen Befunden eine entscheidende Bedeutung beigemessen und darüber die klinische Untersuchung vernachlässigt. Die körperliche Untersuchung war dort für Indikationsstellungen das A und O. Die wenigsten Patienten sprechen Englisch, Anamneseerhebung oder Zeitangaben blieben teilweise sehr vage. Da reicht der Aufnahmebogen auch im Format DIN A5. Gestellte Indikation, Narkose, Operation – ohne technischen Befund – und Formularanhang. Ganz kurze Wege, alles in einem Guss! Das nenne ich zielorientiert!
Glück im Unglück für Kito
Kito ist 11 Jahre alt und wohnt in der Nähe von Serabu. Er ist ein aufgeweckter Junge, der in der Schule Englisch lernt. An diesem späten Nachmittag ist er auf Straße zwischen der Stadt Bo und Serabu zu Fuß unterwegs. Die Straße ist eine festgefahrene Schotterpiste mit unglaublichen Bodenwellen und Schlaglöchern, eng mit dichter Vegetation umstanden und für Fußgänger sehr gefährlich. Während die Geländewagen und Motorradfahrer eher langsam unterwegs sind donnern die LKWs über die ganze Straßenbreite. Kito war einen kleinen Augenblick zu langsam als er zur Seite sprang, da hatte ihn der LKW schon umgerissen – und fuhr ungerührt weiter! Als ich auf die Station kam hatte man Kito die Hose aufgeschnitten. Der rechte Unterschenkel war in ganzer Länge bis auf die Knochen aufgerissen, der linke war weniger tief verletzt. Für die Gabe eines Schmerzmittels wurde ein venöser Zugang vorbereitet – Kito hat aber auch so nicht einen Mucks von sich gegeben, alles stoisch ertragen. Nach der Erstversorgung im OP haben wir jeden zweiten Tag verbunden oder nachoperiert. Die späteren Verbände konnten dann ohne Narkose erfolgen. Die Wundheilung braucht noch ein wenig Zeit, aber er kann schon fast so wie vor dem Unfall rennen. Das ist nur ein kleines Beispiel für chirurgische Arbeit im Hospital in Serabu. Ich bin sehr beeindruckt von der medizinischen Leistungsfähigkeit der CHOs und dem zusätzlich weitergebildeten Surgical Assistant Alieu oder dem Anästhesiological Assistant Swallo. Das Ausbildungskonzept, das die German Doctors tatkräftig fördern, trägt Früchte und leistet einen kleinen Beitrag im Kampf gegen Armut weltweit.
Wir helfen, so gut wir können
Es wird geholfen, was die Mittel hergeben, rund um die Uhr. In erster Linie werden Leistenbrüche operiert und bauchchirurgische Notfälle, die regelmäßig sehr spät ins Krankenhaus kommen. Im landesweiten Vergleich sind die OP-Zahlen recht hoch. 60 Geburten pro Monat davon 20 Kaiserschnitte. Daneben viele Kinder mit schwerer Malaria und eitrigen Hautinfekten, Erwachsene mit ausgedehnten Zahnabszessen oder Fingerphlegmonen. Es waren sechs Wochen mit einer Fülle von Eindrücken und einigen Herausforderungen. Mein Rufname war „Doc Jo“, ich habe mich im ganzen Team des Hospitals sehr wohl gefühlt und würde jederzeit wieder hinfliegen. Vielleicht können wir so in bescheidenem Maße etwas von der Ungerechtigkeit abtragen, die der afrikanische Kontinent in den Jahrhunderten erfahren hat und immer noch erfährt. Die Armut weltweit nimmt zu: Auf Europa wird in Zukunft eine gewaltige Migrationswelle aus Afrika zurollen – die Hilfe zur Selbsthilfe lässt sie mit Sicherheit flacher ausfallen.
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