Nur ein Tropfen auf den heißen Stein?

Dritter Teil des Berichts von Einsatzarzt Dr. Frithjof Leonhardt aus Kalkutta

Meine Stimmung ist heute nicht besonders gut. Fast das gesamte Team hustet oder ist erkältet. Die Patientenzahlen sind erdrückend hoch. Und vieles von den hier herrschenden Strukturen ist für uns deutsche Ärzte nur schwer zu durchschauen, z.B. in der Schwangeren-Beratung: Machen wir das oder übernimmt das später das Krankenhaus, in dem die Frauen nach dem Willen der Regierung entbinden sollen? Auch sind manche Krankheitsbilder von unseren finanziellen Möglichkeiten her kaum richtig zu diagnostizieren, so dass nur die Möglichkeit bleibt sie in eine indische Poliklinik einzuweisen, in der vagen Hoffnung, sie erhalten dort einen Termin. Macht es überhaupt Sinn, die Armut in der Welt bekämpfen zu wollen?

Der Hilfseinsatz bringt mich an meine Grenzen

Kalkutta Slum

Eine enge Gasse im Slum von Kalkutta

Heute Morgen war ich insgeheim froh, dass ein Kind mit einem riesigen Wasserkopf an mir vorbei zu einen Kollegen ging. Allein der Anblick des Kindes und der besorgten Mutter waren nur schwer auszuhalten. Die vermüllte Umgebung stimmt mich auch nicht heiterer. Aber dann versuche ich mich wieder an das Motto von German Doctors zu erinnern: Jeder einzelne Mensch zählt. Das ist in meinen Augen ein sehr gutes Motto, mit dem es sich auch hier in Indien aushalten und arbeiten lässt. Dieser Grundsatz lässt uns zudem nicht auf den zahlenmäßigen Erfolg schielen, den wir hier in diesem 1,2 Milliarden Land ohnehin niemals erzielen können. Es rückt aber den einzelnen Menschen, das leidende Individuum, in den Mittelpunkt unseres Interesses: Und dieser Mensch könnten auch wir sein, wenn wir krank sind und fremder, fachkundiger Hilfe bedürfen.

Überall hilfsbereite Menschen

Zudem rufe ich mir immer wieder die vielen freundlichen und hilfsbereiten Menschen ins Gedächnis, die es hier gibt: Den Polizisten, der mich im Zentrum von Kalkutta auf sein Motorrad hievte, um mich zu meiner weit entfernten Bushaltestelle zu bringen. Den jungen Mann, der mir mitternächtlich in einer finsteren Gegend uneigennützig  half, mein desolates Handy wieder in Schwung zu bringen. Oder den Mann, der mit Parkinson neben mir her hinkte, um mir die Orientierung im Hauptbahnhof von Kalkutta zu erleichtern. Alles menschliche Highlights in dieser riesigen, meist gewaltfrei agierenden Demokratie Indiens, die einen auch in den größten Massenaufläufen meist noch sicher fühlen lassen und die das unverzichtbare und kostbare Erbe von Gandhi hochhält.

Die Armut in der Welt ist nicht naturgegeben!

Kinder in Armut

Armut in der Welt: Kinder trifft es besonders oft

Am Ende weiß ich wieder, was mich mit den German Doctors nach Indien getrieben hat:

1) Der Blick nach außen, hinweg über unseren beschränkten, europäischen goldenen Tellerrand mit seinen häufig völlig überzogenen westlichen Ansprüchen und Bedürfnissen. Die Armut in der Welt ist weiterhin erschreckend groß. Gandhi hatte Recht: „The earth provides enough for every man‘s need, but not for every man’s greed.“

2) Der distanzierte Blick auf ein Land und Volk, dessen Gesellschafts- und Denkstrukturen sehr verschieden von unseren Mustern und Vorstellungen sind, dessen Gegensätze und Kontraste für den europäischen Geschmack manchmal erschreckend sind und die auch immer wieder die Frage aufwerfen, welche humanen Werte denn letztlich in der Zukunft Menschheitsübergreifend für alle Menschen verbindlich sein sollen.

3) Was müssen, was können wir als westliche Gesellschaften dafür tun, dass die von der UNO verfasste Charta der Menschenrechte in unserer Welt zunehmend Verbreitung findet, dass sie eines Tages universell anerkannt wird und dann vielleicht auch irgendwann einmal vor der UNO einklagbar wird.

Fromme Wünsche? Ich denke nicht! Mache mich aber für einen langen Marsch bereit und bin dankbar, zumindest einen kleinen Teil dazu beizutragen!