Wo Freitags immer Sonntag ist…

Mein Bangladesch-Reisebericht: Einsatzarzt Dr. Rolf-Ferdinand Gehre schildert seine Eindrücke aus Dhaka

Zwischen dem Verkehr in deutschen Großstädten und dem in Dhaka bestehen doch, wie ich in mehreren Stau-Steh-Stunden recht gründlich feststellen konnte, gewisse Unterschiede. Nicht nur, dass hier zwar mehrheitlich, aber keineswegs ausschließlich links gefahren wird – vor allem ist es das, was sich an Fahrzeugen (plus Fußgängern plus Hunden plus Ziegen) auf den Straßen tummelt, was den großen Unterschied ausmacht. Beginnen möchte ich meinen Bangladesch-Reisebericht mit einem kleinen Überblick über die „Verkehrslage“ des Landes…

Rikscha in Dhaka

Die Rikscha-Fahrer strampeln Tag für Tag durch Dhakas Innenstadt

Überall sind Rikschas zu sehen

Ein Hingucker und mich faszinierend sind die Fahrradrikschas, die es in diesem 10-Millionen-Stadtmoloch zu mehreren Hunderttausenden gibt und die aus unerfindlichen Gründen immer reich mit Gold und Glitter verziert sind. Sie fahren die unmöglichsten Wege, Verkehrsregeln souverän missachtend und die unglaublichsten Lasten transportierend: Bis zu vierköpfige Familien können und werden da reingequetscht, es kann aber auch ein Stapel von 10 Reissäcken sein samt Reisbauer obendrauf. Manchmal fahren aber auch nur ein ins Handy versunkener junger Schnösel oder eine übergewichtige Geschäftsfrau darin, die den keuchenden Rikshaw-Wallah da vorn auf den Pedalen keines Blickes würdigen. Dies ist ein gewöhnungsbedürftiger Anblick – aber man lernt, dass die armen Pedalritter sich über jede Fahrt, die sie machen dürfen, freuen. Die Rikscha gehört ihnen übrigens nie; sie müssen sie jeden Tag mieten und das Geld dafür im Voraus entrichten.

grüne Minna

Die „grüne Minna“ darf in meinem Bangladesch-Reisebericht nicht fehlen…

Die komische “Grüne Minna” auf dem Bild ist das, was in vielen anderen Ländern Asiens lautmalerisch als Tuktuk bezeichnet wird. Sie werden, da sie – fortschrittlich! – mit “compressed natural gas” betrieben werden, hierzulande kurzerhand CNG genannt. Auch hier fahren bis zu vier, manchmal mehr Personen mit; die Gittertüren dienen im Gegensatz zur Grünen Minna übrigens nicht dafür, dass Keiner unerlaubt raus kann, sondern zum Gegenteil… Und dann gibt es noch handgezogene Karren, reine Lastenfahrräder, gasgetriebene Uralt-Lkws und Busse, altersschwache Londoner Doppeldeckerbusse (ohne Fensterscheiben und auch sonst recht ramponiert, aber unverwüstlich), normale Fahrräder, Motorräder zuhauf, selten Taxis (in denen man sich die Frage nach einem funktionierenden Taxameter schenken kann); fast nur Autos japanischer, koreanischer oder indischer Hersteller meist betagten Alters sind unterwegs. In den schmalen Gassen funktionieren ehemalige Toyota- oder Nissan-Pick-ups, auf die man hinten Bänke und ein Dach montiert hat, als Hilfsbusse: selbst nach bengalischen Standards gelten diese Wracks nicht mehr als neuwertig, aber für ein oder gar zwei Vollumdrehungen des Kilometerzählers müssen sie wahrscheinlich immer noch herhalten.

Polizei-Eskorte an den Behandlungsort

In die Slums, in denen wir unsere Sprechstunden abhalten, werden wir immer von bewaffneter Polizei eskortiert. Deren Autos sind aber manchmal ebenfalls reichlich altersschwach und kommen Steigungen nur mit viel Mühe hoch; manche schaffen nur 30 bis 40 km/h in der Spitze… Und wenn sie im Stau ihre Sirene für uns anmachen, beeindruckt das auch nur die Wenigsten. Die Slums sind von unterschiedlicher “Qualität”. Niemand von uns würde da wohnen wollen oder sich das nur vorstellen können, aber ganz so heftig wie z.B. in Nairobi oder Kalkutta sind die meisten nicht. Oft ist alle 100 Meter sogar eine Wasserpumpe vorhanden und so was Ähnliches wie ein Gemeinschaftsabort. Über die keramische Ausstattung will ich mich zwar lieber nicht in Details ergehen, aber ein erkennbarer Effekt ist, dass Durchfallerkrankungen hier seltener sind als beispielsweise in Nairobi.

Der Samstag und der Sonntag sind hier normale Arbeitstage: Daran, dass der Freitag hier das Wochenende markiert, ist es ganz seltsam schwer, sich zu gewöhnen! Wir selbst wohnen nicht in einem Slum, aber in einer dennoch armen und so verwinkelten Gegend, in deren Gassen das Leben so sehr wimmelt und brodelt, dass auch ein alter Pfadfinder wie ich, der sich sonst auf sein Orientierungsvermögen mächtig was einbildet, hier anfangs ohne Hilfe sich gründlich verlaufen hätte. Wenn man kein Bangla spricht, ist man auf Gebärdensprache angewiesen oder auf die Hilfe zufälliger, irgendwelcher englischer Brocken befähigter Passanten: Diese sind allerdings meist sehr freundlich – als Weißer ist man hierzulande noch ein echtes Unikum. Sehr, sehr angenehm ist die allgemeine Höflichkeit: Obwohl man sich schnell der allgemeinen Aufmerksamkeit sicher sein kann, wird man niemals bedrängt oder angestarrt, sondern nach einem kurzen Gespräch schnell wieder in Ruhe gelassen.

Zugfahrt Dhaka

Zugfahrt in Bangladesch: Irgendwo ist immer noch ein Platz frei

Winter in Bangladesch

Zu Anfang Dezember zog auch hier in Bangladesch der Winter ein – jedenfalls das, was hier Winter genannt wird. Das heißt nicht, dass ich schon Schnee schippen musste, aber frühmorgens kann es schon mal um die 20, ein Mal sogar 16° „kalt“ sein. Die Geräuschkulisse hier besteht, schon morgens um 5 Ur, aus dem ersten Gebetsaufruf des Muezzins (plus den expektorierend wirkenden Begleitgeräuschen seiner museumsreifen Lautsprecheranlage) statt aus „Jingle Bells“ oder „Vom Himmel hoch da komm ich her“. Adventsdeko, Weihnachtsmärkte und Tannenbaumverkäufer haben wir ja auch gar nicht erwartet, Schokolade würde eh schmelzen und ist mir persönlich aus Figurgründen sowieso verboten. Den Speiseplan bewältigen wir problemlos auch ohne Gans, Spekulatius und Marzipankugeln (wobei ich über Letztere mit mir handeln ließe…), sondern kommen mit der reislastigen und überwiegend vegetarischen Kost hier sehr gut zurecht: Unsere Kohinoor, wie sie bezeichnenderweise heißt, ist wahrlich ein wertvoller Diamant unter den Köchinnen!

An den freien Tagen haben wir inzwischen auch ein wenig vom Landesinneren sehen können: Fast überall pfannkuchenplatt, sehr grün, viel Wasser, extrem fruchtbar. Quizfrage zwischendurch: Welches Land hat mehr Einwohner: Das riesige Russland oder das kleine Bangladesch? Na, wenn ich schon sooo frage… Eine Flussfahrt den Brahmaputra runter, Landvillen aus der Moghul- bzw Maharaja-Zeit im Norden, Teeplantagen, eine Begegnung mit Arbeitselefanten waren sehr willkommene Abwechslungen zum inzwischen zwar gewöhnten, aber immer noch staubigen, übervollen Stadtmoloch Dhaka. Über den Verkehr dort könnte ich noch ewig weiter palavern und euch zig Bilder von skurrilen oder scheinbar soeben erst dem Automuseum oder dem Schrottplatz entsprungenen Fahrzeugen zeigen. Aber das würde hier eindeutig den Rahmen sprengen…

Was ich als Arzt tun konnte

Sprechstunde German Doctors

Sprechstunde im Slum von Dhaka

Lieber und anlassbezogener berichte und illustriere ich in meinem Bangaldesch-Reisebericht nun noch etwas zu meiner Arbeit als Arzt: Die Herausforderung liegt hier weniger im medizinischen Bereich als mehr in klimatischen, in kulturellen und in einsatzortbezogenen Faktoren. So arbeiten die German Doctors hier teilweise nur vier Meter von vorbeidonnernden Zügen entfernt in Wellblechhütten, die zu Mittag Temperaturen erreichen, die nicht immer der deutschen Arbeitsstättenverordnung entsprechen. Der bei Regenausfall überall schwebende Staub, die Smogwetterlagen, der Rauch aus den offenen, in den Hütten brennenden Feuerstellen tragen bei den dort Wohnenden zu einer sehr hohen Prävalenz an Asthma, COPD und anderen Atemwegserkrankungen bei. Krätze, Allergien, Hautpilze, bakterielle Hautentzündungen sind unser tägliches, reichliches Rätselbrot – besonders da sie keineswegs immer einzeln, sondern öfters in Kombination vorkommen. Hinzu kommen noch der – aus genetischen Gründen auf dem indischen Subkontinent sehr häufige – Diabetes mellitus sowie vielfältige Mangelerscheinungen: Besonders an Eisen und Zink und Jod, aber auch B-, D- und A-Vitamine. Dieser Tage habe ich sogar den ersten wahrscheinlichen Fall von Skorbut in meinem Leben gesehen (entsteht durch Vitamin-C-Mangel). Nach längerer Zeit ist mir auch mal wieder eine Mikrofiliariose untergekommen und eine Haut-Leishmaniose (ein tropisches Hautgeschwür; Karl-May-Lesern als Aleppo-Beule bekannt).

Abhören, Bauchuntersuchen u.v.m. geht aus kulturellen Gründen und bei völlig fehlender Privatsphäre an unseren Behandlungsorten meist nur durch die Kleidung hindurch. Wie in anderen Ländern auch, haben die Patienten in Bangladesch ebenfalls ihre „Mode-Erkrankungen“ oder für eigentlich andere Dinge stehende Metaphern: „gastric“, „weakness“, „fever at night“, „all body pain“ gehören beispielsweise dazu, ebenso die Zeitangaben: 5, 10, oder noch mehr Jahre angeblich Fieber zu haben oder kontinuierlichen  „weight loss“, gehört hier zu den ungerührt vorgetragenen Schilderungen. Apropos Schilderung: Auch wenn ich inzwischen einige Symptome usw. selbst auf Bangla abfragen kann, spricht von der sowieso zu 40% noch analphabetischen Bevölkerung maximal 1% Englisch, obwohl das hier offiziell die zweite Amtssprache ist.

Zerstörte Zähne von Betelnüssen

Das Resultat von jahrelangem Verzehr von Betelnüssen

Ein erschreckend häufig auftauchendes Bild sind die vom Betelnuss-Kauen zerstörten Zähne und Zungen. Aber die Stimulation und die hungervertreibende Wirkung durch den kleinen Rausch lassen es das wohl vielen Leuten für wert erscheinen. Auch unser Busfahrer bei der Fahrt in den Norden Bangladeschs schob sich vorm Losfahren erstmal einen ordentlichen Priem in die Backentasche. Selbst Polizisten frönen diesem Brauch… Malaria gibt es hier nur saisonal in der Regenzeit – derzeit also nicht und das erleichtert sehr vieles. Tuberkulose ist weniger oft als erwartet, HIV ganz wesentlich seltener als es in Afrika ist und in Indien sein soll; auch echte Unterernährung ist seltener, als ich erwartete: So wie zur vergleichsweise geringen Durchfallhäufigkeit trägt auch dazu wohl, neben der zwar nur rudimentären aber immerhin in Ansätzen vorhandene Kanalisation, die bessere Trinkwasserversorgung als in manch andern Ländern bei. Hier ist das halb amphibische Land Bangladesch dann mal im Vorteil.

Kurz vor Weihnachten war ich dann auch wieder in Deutschland, um fleißig mein Quantum an Keksen und Schokokringeln nachzuholen… Ich hoffe ich konnte mit meinem Bangladesch-Reisebericht einen guten Eindruck vermitteln, was die Besonderheiten des Landes sind und wie die dortige Arbeit der German Doctors funtioniert!