Land des Lächelns II: Rolling Clinic bei den Mangyans auf Mindoro
Ein Bericht von Sebastian Zimber über seinen Einsatz auf Mindoro, Philippinen
Der junge Mann auf dem Patientenstuhl kauert sich immer mehr zusammen, irgendwann dreht er sich weg und nimmt am Gespräch nicht mehr teil. Rebecca, die Übersetzerin, fragt geduldig nach, freundlich und einfühlsam, aber es kommt nichts mehr zurück. Ob er vielleicht ein wenig zurückgeblieben sei, frage ich nach. Nein, der ist ganz normal, antwortet Rebecca und lacht. Sie muss es wissen, denn sie ist selbst Mangyan und sieht die scheuen Menschen auf jeder Tour der Rolling Clinic. Es fällt vielen sichtlich schwer, die Fragen zu beantworten, oder gar direkt mit mir zu sprechen. Wir haben uns einen Trick ausgedacht: Der Patientenstuhl steht quasi mir gegenüber, so dass die Patienten, einmal dort sitzend, nur noch mich sehen. Dann verkriechen sie sich nicht gleich bei Rebecca, und die wenigsten sind beim Betreten des Zimmers geistesgegenwärtig genug, um die Situation zu durchschauen und den Stuhl so umzudrehen, dass sie sich in sicherer Entfernung von mir wähnen. Grund, sich zu verstecken, hat das indigene Bergvolk genug: vertrieben und aufgrund ihrer Wehrlosigkeit eingeschüchtert, haben sie sich immer weiter in die Berge Mindoros zurückgezogen und leben dort archaisch bis heute als Ackerbauern und Viehzüchter. Gegen jeden Ausbau von Autostraßen wehren sie sich – aus Angst vor den „Lowlandern“, jenen weltoffeneren Küstenbewohnern, die das Bergland erschließen und die Ureinwohner weiter zurückdrängen könnten.
Die Sprechstunden sind in den Bergregionen eine Fundgrube schlecht versorgter Patienten, viele mit asthmatischen Beschwerden und auch Tuberkulose ist häufig. Bis zu vier Stunden laufen manche durch den Dschungel zu unserer Sprechstunde – die lokalen Health-Center sind oft noch schlechter zu erreichen, die Krankenhäuser drei oder mehr Stunden mit dem Motorrad oder Auto entfernt, für einen kaum erschwinglichen Fahrpreis von 700 Pesos. So werden wir hier dringend gebraucht und herzlich begrüßt: wer uns aus sicherer Distanz begegnet und nicht selbst in die Sprechstunde muss, winkt uns freundlich zu, Bananen und gekochte Kartoffeln werden als Geschenke mitgebracht. Für den Arztbesuch werden das beste T-Shirt und die Shorts vom Nachbarn ausgeliehen, manche Patienten erscheinen auch im Lendenschurz und mit dem martialisch aussehenden, oft 40 cm langen, Buschmesser.
Die Kinder tragen oft ein überdimensioniertes T-Shirt, welches dann als „Kleid“ verwendet den ganzen Körper einhüllt. Ein kleines Mädchen kommt mit einem zum Kleid umfunktionierten Erwachsenen-Unterrock: zwei Löcher am Bund dienen als Öffnung für die Arme, wobei das Kind tagfüllend damit beschäftigt ist, besagtes Kleidungsstück in Position zu halten.
Geduldig warten die Mangayans stundenlang auf die Sprechstunde. Rempeleien in der Warteschlange gibt es keine. Wiegen, Aufnahmegespräch mit Cecile, Sprechstunde beim Arzt, Pharmacy – alle Schritte werden mit Staunen und Ehrfurcht durchlaufen. „Unschuldig“ nennt Rainer, mein Kollege, die Mangayans – hektische Betriebsamkeit scheint ihnen ebenso fremd wie die egozentrische westliche Anspruchshaltung. Brauchen diese Menschen keinen Stolz? Oder kennen sie ihn gar nicht? Oft bekommen sie dann Medikamente für ein paar Cent, die schon reichen können, ein fieberndes Kind wieder zu beruhigen, eine Entwurmung durchzuführen oder eine hartnäckige Hauterkrankung zu stoppen. Wobei gerade letzteres schwierig ist: sterile Verbände, Wunddesinfektion, Hygiene – das schaffen die wenigsten zuhause in den Folgetagen. Zum nächsten Health Center, wo eine Krankenschwester oder Sozialarbeiterin erreichbar ist, sind es oft 3 Stunden Weg. Alleine schon die Mühen der Anreise selektieren die Patienten.
Wir sind mit dem Geländewagen gekommen – 2 Stunden Fahrt, 20 Flussüberquerungen, schlammige Holperpisten – der Traum des europäischen 4×4-Besitzers, oder eben der Alptraum desselben, falls es sich um ein poliertes Edelmodell handeln sollte – mein kleiner C2 ist schon seit der geschotterten Nebenstraße zu Beginn unserer Anreise nicht mehr in der engeren Auswahl.
Fast jeden Tag unserer Rolling Clinic, die jeweils neun Tage dauert – bis zu 12 Stunden täglich plus Aufräumen und Vorbereitung für das Team – kommt dann auch ein schwer kranker Patient: Die Mutter des Kleinen, nicht einmal mehr 6 Kg schweren Säuglings mit tagelangem Durchfall und schwerer Unterernährung schaut uns während der Sprechstunde ziemlich entgeistert an: In die Klinik soll er? Wie soll ich dahin kommen? Eine Infusion will der fremde Arzt legen, und was dann? So nimmt mich weder das nächste Motorrad, noch ein Tricycle mit! Und der kommunale Fahrdienst der Gemeinde – mit Van – kommt nur einmal pro Woche vorbei, um bedürftige Leute kostenlos in die nächste Stadt zu fahren. Für dieses Kind sicher zu spät!
Dass es hier um eine lebensgefährliche Sache geht, und das Kind schon bald an seinem Flüssigkeitsmangel sterben kann, rede ich der Mutter ins Gewissen. Das abwesende Lächeln der jungen Frau interpretiere ich als Mischung von Abwehr und Fatalismus. Es wäre nicht das erste Kind, das sie früh verliert. Wieder sind Rebeccas freundliche Überredungskünste gefragt. Sie spricht leise, einfühlsam, ohne jede Drohung. So richtig überzeugt bin ich nicht, als die Familie dann mit der Zusicherung, „bald“ in die Klinik zu fahren, verschwunden ist. Auch Rebecca lächelt, und ich auch. Definitiv aber ein asiatisches Lächeln: Eine schöne Fassade, hinter der doch immer noch die Hoffnung, die Disziplin und die echte Chance verbergen, dass die Sache gut ausgeht.
Gleiches ist mir vor zwei Jahren auf Mindoro wiederfahren. Eine Mutter, die ihr 6-7 Monate altes Baby mit einem Gewicht von 2 kg partout nicht in die Klinik bringen lassen wollte.Bitter, aber ohne eine Portion Fatalismus sind solche Einsätze nicht zu machen
Birgitta Boye
Mein eindrücklichstes Erlebnis auf Mindoro-Nord: Eine leberkrebskranke Mutter, die am Tag zuvor ihr Kind geboren hatte im Krankenhaus. Die Mutter wurde „entlassen“, sie war jedoch zu schwach für einen Heimtransport. Mit viel Mühe erreichte ich eine Wiederaufnahme der Mutter auf die von uns unterstützte Mangyan-Station. Das Baby verstarb am nächsten Tag. Die Mutter konnte sich noch etwas „erholen“, aber sie wußte vom Tod ihres Babies und wußte, dass auch sie bald sterben muß. Diese stumme Trauer in ihrem Blick werde ich nie vergessen. Und auch nicht die scheue Zurückhaltung, ihr gelegentliches verhaltenes Lächeln, die Mischung von Resignation und Depression, aber auch von Würde in den Gesichtern dieser Menschen. Am liebsten wäre ich länger dort geblieben, um mit ihnen eine Zeit lang zu leben und sie besser kennenzulernen.