Streifzug durch das Überschwemmungsgebiet

Ein Bericht von Langzeitarzt Martin Grau vom Sonntag, 18. Dezember 2011

An diesem Sonntagmorgen bin ich mit meinem Mountain Bike durch die Straßen von Cagayan der Oro gefahren, parallel zum Fluss. Die dicken Reifen waren bitter nötig inmitten der Schlammmassen. Die Schaufel in der Hand – oder auch die Zigarette – war es wieder typisch Philippinen: Lachende Gesichter und etliche Zurufe „Hey Joe!“ blieben nicht aus, selbst in diesem Chaos! Ich liebe sie, die Filipinos. Oben auf der Brücke neben der ‚City Hall‘ und der Kathedrale, 10 m über dem Fluss, konnte ich die Ausmaße der Katastrophe überblicken: Uferränder waren weggebrochen; was früher grün gewesen war, ist jetzt schlammbraun. Holz- und Bambusreste ragen aus dem Schlamm in allen Himmelsrichtungen hervor. Auch mal ein „Stück“ Auto. Dazwischen Menschen, die versuchten, irgendwelche Überreste aus dem Überschwemmungsgebiet zu sammeln. Immer wieder sieht man Menschen mit toten verschlammten Hühnern oder Ferkeln an der Hand. Immer noch können unter den Schlammmassen Menschen, vor allem Kinder, begraben sein.

Auf der neuen Brücke, 10 m hoch (zehn Meter!), die unser Doctors House in Nazareth mit dem Flughafen verbindet, standen etliche Schaulustige. Grasreste und Astgerippe wurden von der Strömung letzte Nacht auf ihr abgelagert. Ihr gegenüber steht ein riesiges Metallgerüst für Werbeanzeigen, nackt, teilweise eingeknickt. Auf Brückenhöhe hängen die Rest von Schilf und Ästen; Müll hat sich darin verfangen. Die Flut hat die Metallstreben darunter hellbraun gefärbt. Unter mir sah ich inmitten des Schlammes Wäsche in einer Reihe an einem 50 m langen umfunktionierten Telefonkabel hängen, wie frisch gewaschen. Ein totes Schwein trieb in Flussmitte dahin. Auf der anderen Seite gegenüber ist der Neubau eines Hotels zum Stillstand gekommen. Die unteren Stockwerke sind voll gelaufen mit Wasser und Schlamm. Der halbfertige Deich konnte sich nicht behaupten.

Ich fuhr weiter flussaufwärts auf einer völlig verschlammten Straße entlang, wo sich Mopeds und Autos stauten. Sie waren beladen mit allem, was noch zu retten war. Ab und zu erreichten mich Patienten-Zurufe, denn das hier war ja unser Einzugsgebiet. Ich versuchte, auf Stichstraßen aus diesem Dreck wieder rauszukommen, aber auch die waren schlammverstopft. Es gelang mir endlich, nach Befragen einer Dreiergruppe von Männern, die unter einem Baum auf Plastikhockern saß, bei einer Flasche Bier (oder auch zwei). „Hey Joe, you want a shot?“ Ich liebe sie, die Filipinos.

Durch zwei tiefe Pfützen hindurch bahnte ich mir den Weg Richtung Hauptstraße. Dabei traf ich Floi’s Familie. Floi war früher langjährige Mitarbeiterin beim Komitee gewesen. Ihr Haus war von ihrer Mutter und ihren Schwestern bewohnt. Sie hatten sich alle in den zweiten Stock geflüchtet und noch Nachbarn bei sich aufgenommen. Unterhalb hatte das Wasser bis zur Decke gestanden. Sie haben jetzt endgültig die Nase voll. Nach der Flut im Januar 2009, wo auch schon Wasser ins Haus gelaufen war, reicht es jetzt. Sie suchen sich eine neue Bleibe.

Auf der Rückfahrt zum Hospital bin ich kurz am ‚Covert Court‘, einer offenen Sport- und Versammlungshalle unseres benachbarten Stadtteils Macasandig, vorbeigekommen. Sie war belagert von Menschenmassen, denen Kleidung und Wasser ausgegeben wurde. Reis oder andere Nahrungsmittel habe ich nicht gesehen. Nebenan saß medizinisches Personal, von dem gegen Tetanus geimpft, Wunden gereinigt und erste Infektionen bekämpft wurden. Allerdings fehlten weitgehend Medikamente.

Zurück im Krankenhaus haben wir erste Kleidung für unsere betroffenen Angestellten in Kisten verpackt und von unseren Rolling Clinic-Fahrern verteilen lassen. Tabletten, Suspensionen und etwas Verbandmaterial wurden gepackt und nach Macasandig geschickt. Das Obdachlosen-Camp im Xavier-Gelände war ja schon vorher von Einsatzleiter Dietmar Schug versorgt worden.

Soldaten im Hilfseinsatz habe ich während meiner Orientierungsfahrt nicht gesehen, nur einige wenige Polizisten.

In einer größeren Pfütze habe ich notdürftig mein völlig verschlammtes Fahrrad gewaschen. Es gibt zur Zeit kein fließendes Wasser in der Stadt. Alles wird von Feuerlöschautos aus speziellen Quellen geholt und verteilt. Mit einem platten Vorderreifen bin ich nach Hause gelaufen.

Trotzdem: ich wünsche Euch allen ein gesegnetes Weihnachtsfest!