Nachdem ich etwa eine Woche gebraucht habe, den ersten „Kulturschock“ zu verarbeiten: Dreck, Kot, Unrat, dazwischen Hunde, Ziegen, Kühe, schlafende Menschen im Dreck direkt neben den vielbefahrenen Straßen. Auch die Entwicklung einer („Überlebens“-) Strategie, als Fußgänger auf der Straße (Bürgersteige gibt es nicht überall), nicht von einer Rikscha, einem Fahrradfahrer, Motorrad, Bus oder Taxi angefahren zu werden, wenn man sich nicht „eindeutig“ im Sinne Indiens „verhält“, beschäftigte mich über eine Woche. Dann plötzlich- gestern- spürte ich bei einem Spaziergang auf der GT Road etwas Unerwartetes: etwas im Außen oder in mir?? hatte sich „verlangsamt“. Das rasante Tempo und Chaos erschien weniger bedrohlich und überwältigend. Ich schaue häufiger in die kleinen Geschäfte, sehe, was die Händler feilbieten, vorne ihre Waren, im hinteren Bereich des Ladens ein Bett oder ein Doppelbett, wo die Familie lebt. Der Laden ist ein Laden und auch das Zuhause des Händlers, wo sich das ganze Familienleben abspielt. In unserer unmittelbaren Nachbarschaft kennen mich einige Händler schon und grüßen zurück, wenn ich grüße. Es gibt den Müller, der den ganzen Tag das Mehl in Säcke abfüllt, den Süssigkeitenhändler, der sein Zuckergebäck anbietet, was ich mich aber noch nicht getraut habe zu essen:-), der Glühbirnenhändler, der Glühbirnen in allen Größen und Stärken vekauft, den Schuhhändler mit Flipflops in allen nur erdenklichen Spielarten, die Garküche, die auf der Straße köstlich riechende Speisen zubereitet, davor die Moschee, dessen Muezzin nachmittags um 4 und morgens um 4.30 Uhr seine Gebete erschallen läßt, den Gemüsehändler, den Kohlehändler… Es gibt wohl eine neue „Schicht“ des Erlebens, die sich mir erst jetzt erschließt. Das direkte Erleben der Menschen in unserer Nachbarschaft, ihrer Emsigkeit und Lebensfreude, auch ihres Phlegmas, was unmittelbar, ohne Privatheit, direkt auf der Straße vom Betrachter erlebt wird, ob man es will oder nicht, man ist in intime Momente des Alltagslebens involviert. Es gibt keinen Ausweg, sich dem zu entziehen, es ist faszinierend und manchmal abstoßend oder befremdlich zugleich, aber es hat auch etwas Beruhigendes. Kolkata, so beginne ich zu ahnen, hat eine zutiefst berührende, menschliche Seite…